oder: Einfach nicht hinschauen
Neulich war ich auf dem Geburtstag einer Freundin eingeladen: eine 80er-Jahre-Party im Berliner Nachtclub SO36. Klingelt es bei irgendwem? Die erste Runde ging auf das Geburtstagskind und wir tanzten nicht mit Tränen in den Augen, sondern mit unseren Flaschen in den Händen. Mich störte das nicht, eigentlich finde ich es gut, wenn ich etwas habe, woran ich mich festhalten kann. Das muss nicht unbedingt ein Typ sein. Nein, Scherz beiseite. Ich bin seit mehr als 16 Jahren verheiratet. Der einzige Typ, an dem ich mich festhalte, ist mein Mann. Und der war nicht mit dabei.
Ich hatte also meine Apfelschorle in der Hand. Neben mir tanzte eine meiner Freundinnen. Sie hielt, glaube ich, eine Flasche Cola. Ebenso wie ich ist sie Mutter von drei Töchtern, das ist aber noch lange nicht alles, was uns verbindet.
Ihre älteste Tochter hat im vergangenen Jahr Abitur gemacht. Meine Freundin rief mir über die wummernden Bässe zu: „Ich sage ihr immer: Bloß nicht dein Getränk aus den Augen lassen, wenn du unterwegs bist.“ Im ersten Moment hätte ich fast gefragt: „Wieso nicht?“ Aber dann ließ die Naivität abrupt von mir ab. „Ja, stimmt!“, rief ich zurück. „Davor muss ich Belle bei Gelegenheit auch noch warnen.“ Wir tanzten weiter mit unseren Flaschen in den Händen, bis wir ausgetrunken hatten.
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass K.o.-Tropfen ein Thema waren, als ich in den 90ern und Nullerjahren auf Partys und im Nachtleben unterwegs war. Obwohl es auch schon in diesen Zeiten solche Fälle gab, ich habe es gerade nachgelesen. Als ich jünger war, habe ich mir um halb so viele Dinge Sorgen gemacht wie jetzt. Und dabei begleiten mich Ängste, vor allem irreale, schon fast mein ganzes Leben lang. Seitdem ich Kinder habe, sind sie größer geworden. Wen wundert das? Es gibt drei Personen mehr, die ich über alles liebe.
Die Sorgen sind nicht übermächtig. Ich umkreise meine Kinder weder mit einem Helikopter noch überwache ich sie via Handy-Ortung. Ich mache die Ängste in vielen Fällen mit mir allein aus, noch öfter mit meinem Mann. Ich versuche, nicht so viel darüber nachzudenken. Wenn es einen konkreten Anlass gibt, kann es allerdings vorkommen, dass ich nicht mit den anderen am Abendbrottisch sitze und esse, sondern in die Dunkelheit hinausstarre, bis Supergirl wohlbehalten von ihrem Turntraining nach Hause zurückkehrt.
Das Turntraining ist übrigens auch etwas, über das ich nicht weiter nachdenken möchte. Als ich vor fast 20 Jahren ein Praktikum bei der Sportredaktion der Berliner Zeitung gemacht habe, ist der Turner Ronny Ziesmer im Training verunglückt. Ich kann mich noch daran erinnern, wie die Nachricht über den Newsticker hereinkam. Und beim Schreiben dieses Beitrags musste ich nur wenige Sekunden nachdenken, bis mir sein wieder Name einfiel. Er ist kaum ein Jahr jünger als ich, und während ich damals meinem Berufswunsch immer näherkam, blieb er nach dem Unfall querschnittsgelähmt. Er hatte sich gerade auf die olympischen Spiele vorbereitet, die ein paar Wochen später begannen.
Supergirl und Baby Boss lieben das Geräteturnen. Ich kann nichts dagegen tun und will es auch nicht. Ich bin sehr stolz, wenn ich sehe, mit wieviel Kraft und Anmut sich die beiden bewegen. Bei Wettkämpfen schaue ich trotzdem oft nur durch meine vor dem Gesicht aufgefächerten Finger. Manchmal stehen mir regelrecht die Haare zu Berge. Supergirl zum Beispiel macht einen Handstandüberschlag über den Sprungtisch. Anlauf, Absprung, Überschlag, Landen. Jedes Stolpern bringt mein Herz zum Hüpfen. Wenn der Sprung vorbei ist und die Turnerinnen zum nächsten Gerät wechseln, geht es mir deutlich besser.
Neulich haben mein Mann und ich Belle vom Reiten abgeholt. Als wir ankamen, war sie nicht mehr wie die anderen in der Reithalle. In dem Moment war eigentlich schon klar, dass etwas passiert war. Aber: Die anderen saßen noch auf ihren Pferden. So schlimm konnte es also nicht gewesen sein. Wir fanden Belle im Stall, ihr Pferd, das sie noch nie zuvor geritten war, stand in der Box. Es hatte sie abgeworfen. Wer reitet, muss damit rechnen. Belle sagte, dass sie sich nicht wehgetan hätte. Dennoch habe ich noch zweimal gefragt, ob sie auf ihren Kopf gefallen sei. Bei einem „Ja“ hätte ich wahrscheinlich mit einer Taschenlampe ihre Pupillenreflexe überprüft, obwohl sie natürlich einen Reithelm getragen hatte.
Wenn meine Töchter früher auf Klettergerüsten in schwindelerregende Höhen geklettert sind, hat mir das auch oft Sorgen gemacht. „Schau doch einfach nicht hin“, hat damals mal ein Bekannter zu mir gesagt, selbst Vater von sechs Kindern.
Es ist Freitagnachmittag. Belle ist gerade dabei, ihr Pferd für die Reitstunde zu putzen. Supergirl ist auf dem Weg zu einem Islandponyhof, wo sie das Wochenende verbringt. In einer Viertelstunde beginnt Baby Boss‘ Turntraining. Vielleicht macht sie heute einen Handstandüberschlag über den Sprungtisch, vielleicht fällt Belle vom Pferd, vielleicht Supergirl. Wünschte ich mir, dabei zu sein? Ich könnte ja doch nichts tun. Und hier zuhause fällt es mir deutlich leichter, einfach nicht hinzuschauen.
Toller Beitrag! Ich glaube übrigens, jede Mutter / jeder Vater hat ähnliche Sorgen wie du! Und man hofft inständig, dass der Schutzengel wieder mit von der Partie ist… Und meistens geht alles gut und man hat sich die Sorgen ganz umsonst gemacht 😉
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Du schreibst mir mal wieder aus dem Herzen, liebe Sophie. Unsere mütterlichen Ängste werden leider noch von den Medien befeuert. Was du in Bezug auf K.o.-Tropfen andeutest, gilt auch generell, meine ich. Es gab als wir jung waren auch Unfälle, Übergriffe usw. Nur, man hörte und las nicht ständig davon. Hier in den italienischen Nachrichten scheinen mir manchmal die Berichte von Unglücken und (familiären) Kriminalfällen die politischen und Weltnachrichten zu dominieren. Ich sage immer: Das will ich nicht wissen, verdammt. Man sagt, in der DDR wurde vieles gewollt verschwiegen. Aber war das so verkehrt? Ich habe viel zu oft diese schlimmen Bilder vor dem Auge, was alles passieren kann, weil es einem ständig gezeigt wird.
Ich ging als Fünfjährige allein vom Kindergarten heim und zum Bus, der mich zum Turntraining brachte. Später als Jugendliche mit sechzehn oder siebzehn manchmal abends allein die halbe Stunde zu Fuß zur Disko, während ich meinen Eltern gesagt hatte, die Freundin sei auch dabei. Ich glaube, sie machten sich nicht halb so viele Sorgen in diesen begründeten Fällen als ich heute vollkommen unbegründet.
Liebe mitfühlende Grüße und gönnen wir unseren Mädchen den Spaß an allen Aktivitäten, so „gefährlich“ sie uns ängstlichen Müttern auch erscheinen mögen.
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Liebe Anke, seitdem ich Kinder habe, bin ich auch noch sehr viel dünnhäutiger geworden, was solche Berichte betrifft. Irgendwie kommt das alles sehr dicht an mich heran. Ich weiß auch gar nicht, wovor ich meine Kinder alles warnen soll. Vieles habe ich einfach nicht auf dem Schirm. Gestern zum Beispiel kamen mein Mann und ich am frühen Abend mit der U-Bahn von einer Lesung zurück. Wir sind im gutbürgerlichen Friedenau ausgestiegen und am U-Bahnhof war gerade jemand mit einer Crackpfeife zugange. Wenn ich mir vorstelle, dass Belle oder Supergirl, die schon allein mit der U-Bahn unterwegs sind, dort vorbeikommen, dann… Ja, ich weiß eigentlich auch nicht, was dann. Ich möchte ihnen so eine Situation dringend ersparen. Wird in Berlin aber offensichtlich nicht möglich sein. 😦
Liebe mitfühlende Grüße zurück!
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